5

 

Adrenalin rauschte in ihren Adern, peitschte ihren Fluchtinstinkt auf. Tess schoss an ihm vorbei und rannte den Gang hinauf, ihre Gedanken rasten mit Lichtgeschwindigkeit.

Sie musste hier raus.

Sie musste ihre Handtasche, ihre Geldbörse und ihr Handy holen, und dann, verdammt noch mal, nichts wie raus hier.

„Wir müssen reden.“

Da war er wieder -  er stand direkt vor ihr und verstellte ihr den Weg in ihr Büro.

Als wäre er einfach von dort verschwunden, wo er eben noch gestanden hatte, um sich dann hier im Türrahmen, durch den sie jetzt gehen musste, zu materialisieren.

Mit einem panischen Wimmern wagte Tess einen schnellen Sprung und warf sich in Richtung Empfangsbereich. Sie griff nach dem Telefon und drückte eine Kurzwahltaste.

„Das ist nicht real. Das ist einfach nicht  real“, flüsterte sie atemlos, wiederholte das Mantra, als könnte es alles ungeschehen machen, wenn sie nur fest genug daran glaubte.

Am anderen Ende klingelte es.

Mach schon, los, geh ran.

„Auflegen, Frau.“

Tess wirbelte herum, zitternd vor Angst. Der Angreifer bewegte sich langsam, mit der geschmeidigen Grazie eines Raubtieres. Er kam näher. Zeigte ihr in einem rauen Lächeln die Zähne.

„Bitte. Leg auf. Jetzt.“

Tess schüttelte den Kopf. „Zur Hölle mit dir!“

Als hätte er plötzlich seinen eigenen Willen, flog ihr der Hörer aus der Hand. Als er klappernd neben ihr auf dem Schreibtisch niederfiel, hörte Tess Bens Stimme. „Tess? Hallo … bist du das, Schätzchen? Süße, es ist drei Uhr morgens. Was machst du denn immer noch in der Kli…“

Hinter ihr ein lautes Krachen. Es klang, als hätten unsichtbare Hände das Telefonkabel aus der Wandbuchse gerissen. In der Stille, die nun folgte, ballte sich in ihrem Magen die Angst zu einem harten Knoten zusammen.

„Wir haben da ein ernstes Problem. Tess.“

O Gott.

Der war jetzt stinksauer, und  er wusste ihren Namen.

Im Hinterkopf registrierte Tess, dass der Mann nicht nur bei Bewusstsein war, an sich schon ein Ding der Unmöglichkeit, sondern sich außerdem auf geradezu wundersame Weise von seinen Verletzungen erholt hatte. Unter dem Dreck und der verschmierten Asche, die seine Haut bedeckten, waren die schrecklichen Kratzer und Schnitte verheilt. Seine schwarze Drillichhose war an der Wunde am Bein zerrissen und blutgetränkt, aber er blutete nicht mehr. Genauso verhielt es sich mit der Schusswunde in seinem Unterbauch. Durch den zerfetzten Stoff seines schwarzen T-Shirts hindurch sah Tess nur die glatten Wölbungen seiner Muskeln und makellose, hellbraune Haut.

War das Ganze etwa irgend so ein kranker Halloweenstreich?

Das glaubte sie nicht, und sie wusste, sie tat gut daran, sich diesem Typen gegenüber nach wie vor in Acht zu nehmen.

„Mein Freund weiß, dass ich hier bin. Er ist wahrscheinlich schon unterwegs hierher. Wahrscheinlich hat er sogar schon die Polizei angerufen …“

„Du trägst da ein Mal an der Hand.“

„Wwas?“

Seine Stimme klang anklagend, und jetzt zeigte er auf sie, auf ihre rechte Hand, die zitternd auf ihrem Hals lag.

„Du bist eine Stammesgefährtin. Von heute Nacht an gehörst du mir.“

Seine Mundwinkel kräuselten sich beim Sprechen, als seien seine Worte ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Tess gefielen sie auch nicht unbedingt. Sie zog sich einige Schritte zurück und spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen.

„Hören Sie, ich weiß nicht, was hier los ist. Ich weiß nicht, was heute Nacht mit Ihnen passiert ist oder wie Sie in meine Klinik gekommen sind. Ich weiß nicht, wie es sein kann, dass Sie jetzt so vor mir stehen können, nachdem ich Ihnen genug Betäubungsmittel verpasst habe, um zehn Männer …“

„Ich bin kein Mensch, Tess. Ich bin … etwas anderes.“

Darüber hätte sie verächtlich gelacht, wenn er nicht so todernst geklungen hätte. So tödlich ruhig.

Er war verrückt.

Klar. Natürlich war er das.

Ein entlaufener, psychotischer, rasender Irrer.

Das war die einzige Erklärung, die sie finden konnte, als sie ihn voller Schrecken anstarrte, wie er Schritt für Schritt näher kam, seine schiere Macht und Größe sie mit dem Rücken an die Wand zwangen.

„Du hast mich gerettet, Tess. Ich habe dir keine Wahl gelassen, aber dein Blut hat mich geheilt.“

Tess schüttelte den Kopf. „Ich habe Sie gar nicht geheilt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Ihre Verletzungen überhaupt real waren. Vielleicht dachten Sie nur, dass sie es wären …“

„Sie waren real“, sagte er, einen schwachen, rollenden Akzent in seiner tiefen Stimme. „Ohne dein Blut wäre ich krepiert. Aber als ich eben von dir getrunken habe, habe ich etwas mit dir getan. Etwas, das ich nicht rückgängig machen kann.“

„O mein Gott.“ Tess überkam eine Welle von Schwindel, plötzlich war ihr schlecht. „Reden Sie von HIV? Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie AIDS haben …“

Er winkte ab. „Das sind menschliche Krankheiten“, sagte er.

„Dagegen bin ich immun. Und du auch, Tess.“

Irgendwie wurde ihr durch diese absurde Aussage nicht besser. „Hören Sie auf, mich so zu nennen. Hören Sie auf, so zu tun, als wüssten Sie irgendetwas über mich …“

„Ich erwarte nicht, dass es dir leicht fällt, das zu verstehen.

Ich werde versuchen, es dir so gut zu erklären, wie ich kann.

Weißt du, du bist eine Stammesgefährtin, Tess. Das ist für meine Spezies etwas sehr Besonderes.“

„Für Ihre Spezies?“, fragte sie missmutig. Allmählich hatte sie genug von diesem Spiel. „Also schön, ich gebe auf. Was genau ist Ihre Spezies?“

„Ich bin ein Krieger. Ein Angehöriger des Mitternachtsstammes.“

„Ein Krieger. Na gut. Und Stamm, so wie … was für ein Stamm?“

Einen langen Augenblick lang sah er sie nur an, als wollte er seine Antwort abwägen. „Ich bin ein Vampir, Tess.“

Heilige Muttergottes auf Rollschuhen, der war ja wirklich komplett durchgeknallt.

Oder liefen geistig Gesunde vielleicht herum und gaben sich als blutsaugende Ungeheuer aus? -  Oder noch schlimmer, führten sie ihre perversen Fantasien in der Realität aus, so wie der Typ es mit ihr gemacht hatte?

Allerdings blieb die Tatsache bestehen, dass auf Tess’ Hals keine Spur einer Verletzung zu sehen war, obwohl sie sicher war -  wirklich absolut todsicher - , dass er mit rasiermesserscharfen Reißzähnen in ihren Hals gebissen und eine ganze Menge von ihrem Blut geschluckt hatte.

Und dann war da noch die unglaubliche Tatsache, dass er vor ihr stehen, sich bewegen und reden konnte, als hätte das Betäubungsmittel, das ihn bis nächste Woche außer Gefecht setzen müsste, gar keine Wirkung auf ihn.

Wie war das zu erklären?

Irgendwo draußen jaulten ferne Polizeisirenen, sie schienen sich dem Stadtteil zu nähern, in dem ihre Klinik lag. Tess hörte sie, und auch ihr aus dem Irrenhaus ausgebrochener Geiselnehmer. Er legte leicht den Kopf zur Seite, ließ sie keine Sekunde aus den whiskyfarbenen Augen. Er lächelte trocken, mit einem fast unmerklichen Schmunzeln seines breiten Mundes, dann knurrte er einen Fluch.

„Klingt so, als hätte dein Freund Verstärkung angefordert.“

Tess war zu nervös, um zu antworten, sie war sich nicht sicher, was ihn provozieren würde, jetzt, wo er wusste, dass die Polizei auf dem Weg war.

„Tolle Art, einen Abend zu versauen“, knurrte er, offenbar zu sich selbst. „Wir können die Dinge zwischen uns nicht so lassen, aber so wie’s aussieht, habe ich vorerst keine andere Wahl.“

Er hob seine Hand an Tess’ Gesicht. Sie schrak vor ihm zurück, wollte seiner Berührung ausweichen, erwartete einen harten Faustschlag oder eine andere Brutalität. Aber sie fühlte nur den warmen Druck seiner riesigen Handfläche auf ihrer Stirn.

Er lehnte sich an sie, und sie spürte, wie seine Lippen leicht wie eine Feder ihre Wange streiften.

„Mach die Augen zu“, murmelte er.

Und um Tess wurde es Nacht.

 

„Keine Anzeichen verdächtiger Aktivitäten, Leute. Wir haben alle Zugänge des Gebäudes überprüft, sieht alles gut aus.“

„Danke, Officer“, sagte Tess. Sie kam sich wie eine Idiotin vor, so spät nachts -  oder vielmehr so früh morgens -  einen solchen Zirkus veranstaltet zu haben.

Ben stand neben ihr im Büro, hatte ihr mit einer beschützenden, leicht besitzergreifenden Geste den Arm um die Schultern gelegt. Er war kurz zuvor angekommen, nachdem Polizeisirenen sie aus einem ungewöhnlich tiefen Schlaf geweckt hatten. Anscheinend hatte sie noch bis spät nachts gearbeitet und war am Schreibtisch eingeschlafen. Irgendwie hatte sie das Telefon heruntergeworfen und die Kurzwahltaste von Bens Nummer aktiviert. Er hatte die Nummer der Klinik auf seinem Display erkannt und sich Sorgen gemacht, dass sie irgendwie in Schwierigkeiten war.

Sein prompter Notruf um drei Uhr morgens schickte eine Funkstreife mit zwei Cops zur Klinik.

Was einen Einbruch oder spätnächtliche Besucher betraf, so konnten sie keinen Grund zur Beunruhigung entdecken. Aber sie hatten Shiva gefunden. Einer der Cops hatte sie über die Herkunft des Tigers befragt, und als Ben darauf bestand, dass er das Tier gefunden und nicht gestohlen hätte, zeigte sich der Beamte skeptisch. Er räumte schließlich ein, dass sich Jugendliche in der Halloweennacht besonders gern Werbemaskottchen für dumme Streiche aussuchten, und Ben versicherte ihm sofort, dass das auch bei Shiva der Fall gewesen sein musste.

Ben hatte wirklich Glück, nicht in Handschellen zu landen.

Wie es aussah, war er mit einer Verwarnung davongekommen sowie der Anweisung, Shiva am Morgen umgehend seinem rechtmäßigen Eigentümer, dem Inhaber der Waffenhandlung, zurückzubringen, damit kein falscher Eindruck entstand und womöglich noch Anklage erhoben werden musste.

Tess wand sich unter dem Gewicht von Bens Arm heraus und streckte dem Beamten die Hand hin. „Noch mal vielen Dank, Officer, dass Sie vorbeigekommen sind. Kann ich Ihnen vielleicht einen heißen Kaffee oder Tee anbieten? Ich habe beides da, es dauert nur ein paar Minuten.“

„Nein, vielen Dank, Ma’am.“ Das Funkgerät des Polizisten begann zu rauschen, dann gab die Zentrale eine kodierte Reihe neuer Anweisungen durch. Er sprach in ein Mikrofon, das er am Revers trug, und gab für die Tierklinik Entwarnung durch.

„Dann wären wir hier fertig. Passen Sie gut auf sich auf. Und, Mr. Sullivan, ich gehe davon aus, dass Sie den Tiger dahin zurückbringen, wo er hingehört.“

„Jawohl, Sir.“ Bens breites Lächeln wirkte doch etwas angespannt, als er die dargebotene Hand des Cops ergriff und kurz schüttelte.

Sie brachten die Polizisten zur Tür und sahen zu, wie der Einsatzwagen wendete und hinaus auf die stille Straße fuhr.

Als sie fort waren, schloss Ben die Eingangstür und wandte sich Tess zu. „Und dir geht’s wirklich gut, bist du sicher?“

Sie nickte und seufzte tief. „Ja, alles in Ordnung. Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast. Ich muss am Schreibtisch eingeschlafen sein und das Telefon runtergeworfen haben.“

„Nun, ich kann’s nur wiederholen, es ist nicht gut, dass du so spät nachts noch arbeitest. Das ist hier nicht die sicherste Gegend, das weißt du.“

„Ich hatte hier noch nie Probleme.“

„Es gibt immer ein erstes Mal“, sagte Ben grimmig. „Komm, ich bring dich nach Hause.“

„Bis ganz raus nach North End? Das musst du doch nicht machen. Ich nehme mir einfach ein Taxi.“

„Heute Nacht nicht.“ Ben hob ihre Handtasche auf und hielt sie ihr hin. „Ich bin hellwach, und draußen steht mein Kleinbus.

Na komm schon, Dornröschen.“

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